Buchnotiz: Norbert Kleinz, Ur-Obst Wurzelecht und pflegeleicht 200 Sorten, Leopold Stocker Verlag 2016

(180 Seiten, Preis: 29,90 Euro)

 

Mit diesem Buch trägt der Verfasser ein bisher eher vernachlässigtes obstkulturelles Arbeitsprojekt in die pomologische Debatte. Es geht dabei um die Bewahrung noch vorhandener obstkultureller Diversität, die in den zunehmend agrarindustriell geprägten Landschaften Europas zwangsläufig vernichtet wird. Mit dem von ihm gewählten, geschützten Arbeitsbegriff „Ur-Obst®“ versucht man, das gesamte Spektrum heimischer (europäischer) Obstsorten sowie verwilderter vor Jahrhunderten zum europäischen Bestand gewordener Sorten aufzuspüren, deren Eigenschaften eine Integration in das Konzept von naturnahen Gärten zulassen. Ziel von Naturgärten ist es, eine nachhaltige Bewirtschaftung mit möglichst wenigen menschlichen Eingriffen zu erreichen. Das bedeutet u.a. den weitest gehenden Verzicht auf Wässern, Düngen, „Pflanzenschutz“ und auch auf Rückschnitte. Die bisher europaweit weitgehend unkultiviert aufgefundenen Obstsorten sind robust und durch offensichtliche Auslese gegen viele Schaderreger sehr resistent.

Auch typisches Hochstammobst, wie Äpfel, Birnen, Pflaumen, bildet unkultiviert Buschformen, nur gelegentlich in hohem Alter einen sehr kleinen Stamm. Das bedeutet, dass Ur-Obst als hohe Hecke in jeweils boden- und klimaangepasster Mischung angebaut werden kann. Pflegebedarf ist minimal und auch das Ernten ist gut zu bewerkstelligen, da bei den Wuchsformen des Ur-Obstes selten eine Höhe von vier Meter überschritten wird.

Ähnlich, wie bei der Renaissance der Streuobstwiesen zur Erhaltung „alter“ Sorten, werden dem Ur-Obst wertvolle Eigenschaften und besondere Aromen zugeschrieben. Während die Erhaltung „alter“ Sorten im Streuobstanbau mangels alternativer Verfahren durch Veredelung auf jeweils geeignete Unterlagen geschieht, zielt die „Ur-Obst-Strategie“ auf wurzelechte Vermehrung.

Wurzelechte Pflanzen entstehen natürlicherweise vor allem generativ durch Aussaat, wobei die Nachkommen jedoch nur dann weitgehend die Eigenschaften der Elternpflanzen zeigen, wenn ein einheitlicher Bestand vorliegt und die Sorte noch nicht sehr hoch gezüchtet ist. Die vegetative Vermehrung ermöglicht identische Nachkommen der Mutterpflanze durch direkte Bewurzelung von Pflanzenteilen (Steckholz, Grünsteckling, Absenker, Wurzelausläufer). Längst nicht bei allen Obstarten gelingt bislang eine wurzelechte Vermehrung. Einstweilen behilft man sich in diesen Fällen mit eigentlich zu tiefem Einpflanzen mit dem Ziel, auch eine Bewurzelung oberhalb der Veredelung anzuregen.

Das Buch ist ein sehr sorgfältiger Bericht des aktuellen Standes der Bemühungen Ur-Obstsorten* zu identifizieren und ihre züchterische Vermehrung und Weiterentwicklung voranzubringen. Er ist durch eine ausgezeichnete Bebilderung sehr anschaulich und macht Lust, das Versprechen der beschriebenen Ur-Obstsorten zu testen.

Im ersten Teil wird der Arbeitsbegriff Ur-Obst erläutert und den Grundsätzen des nachhaltigen naturnahen Gartens zugeordnet. Planung, standortabhängige Auswahl und Pflanzung von Obst aus dem bislang verfügbaren Ur-Obst Sortiment wird erläutert. Zu Krankheiten und Schädlingen wird darauf verwiesen, dass Schadorganismen exotischer Herkunft, wie z.B. aktuell die Kirschessigfliege, auch das Ur-Obst schutzlos treffen.

Es folgen systematische Beschreibungen von insgesamt 19 Obstarten in identischer Gliederung: aktuelle Forschungsrichtungen, als Ur-Obst identifizierte Sorten und zu erwartende Weiterentwicklung bei jeder Obstart. Von weiteren 15 Obstarten wird der aktuelle Kenntnisstand der Sortenvielfalt erfasst, der es erlaubt diese Arten als zu entdeckendes Ur-Obst zu bezeichnen. Für jeden Obstliebhaber bietet dieser Bericht zum Stand der Kenntnisse in Sachen Ur-Obst viel Interessantes und sicherlich auch Anregungen, die eine oder andere Sorte zu pflanzen (und zu testen).

In einem programmatischen Schlusskapitel diskutiert der Autor die Perspektiven des Ur-Obstkonzeptes, das derzeit auf Gärten und Anpflanzungen für den Eigenbedarf beschränkt ist. Die Wiederentdeckung von Streuobstwiesen, einer geschichtlichen Kulturform mit ursprünglich doppelter Nutzung, Obst und überwiegend Viehhaltung, schafft wertvolle Lebensräume für bedrohte Tierarten. Der notwendige Arbeitseinsatz rechnet sich jedoch heute nur in Ausnahmefällen, was nicht selten sogar den Bestand neu angelegter Streuobstwiesen gefährdet. Als Alternative oder besser Ergänzung schlägt Kleinz die Anlage von Ur-Obst-Hainen und Obsthecken vor, die nur wenige Eingriffe erfordern. Ökologisch sind solche Hecken und Haine eine Biodiversität sichernde Alternative und wichtige Ergänzung zu Streuobstwiesen. Zudem dürfte es bei den meisten Streuobstwiesen Randbereiche geben, die sich vorzüglich für das Pflanzen solcher Obsthecken eignen, die weitere ideale Lebensräume für eine reichhaltige Fauna bieten würden. Insofern sind sich Streuobstwiesen und Ur-Obsthecken sowie Haine keine Konkurrenz, sondern könnten ihre bedeutenden Rollen bei der Bewahrung von Biodiversität und Sicherung von Inseln lebenswerter Umwelt in den uns zunehmend umgebenden agrarindustriellen „Biodiversitätswüsten“ insgesamt weiter verbessern.

Die als Ur-Obst ausgewählten Obstsorten sind offensichtlich bestens geeignet bei der Gestaltung von selbst kleinsten Grünflächen in städtischen Räumen eingesetzt zu werden. Als Hecke gepflanzt wäre Ur-Obst in all seiner Verschiedenheit in jedem Falle eine Bereicherung von städtischen Parkanlagen jeder Größe. Die Wuchsform und der geringe Pflegebedarf sind geeignet, nachvollziehbare Widerstände der finanziell unzureichend ausgestatteten Gartenämter gegen pflegeintensive Obstpflanzungen zu überwinden und der Vision „essbare Stadt“ einen kleinen Schritt näher zu kommen. Der in dem vorgestellten Buch vorgelegte Arbeitsbericht zum Stand der pomologischen Bemühungen, Ur-Obst Sortimente zu entwickeln, bietet eine Grundlage für eine wichtige Erweiterung der bislang geführten pomologischen Diskurse.

Anhang: Auf der Klausurtagung des Pomologenvereins 2017 werden diese Diskurse bereits in einem Themenblock zusammengeführt: Joachim Reinig (UrbanPom) und Norbert Kleinz (Ur-Obst).) Die Broschüre der Landesgruppe Schleswig-Holstein/Hamburg des Pomologenvereins zu UrbanPom war ein erster Schritt einer Erweiterung des pomologischen Diskurses. Im nächsten Schritt bemüht sich die Landesgruppe darum auf städtischem Gelände u.a. in Zusammenarbeit mit dem NABU einen Schaugarten zu gestalten, der die Vielfalt von Obstarten demonstriert, die sich für die Gestaltung des Stadtgrüns von privaten Balkonen und Terrassen ausgehend über private Grünflächen und schließlich von öffentlichen Flächen und Parks eignen. Ziel ist es die Eignung von Obstarten für die Gestaltung von „Stadtgrün“ zur 2021 stattfindenden EuroPom vielfältig zu demonstrieren und zur Nachahmung anzuregen. Das bereits verfügbare Angebot von Ur-Obst-Sorten dürfte einen wichtigen Baustein bei der Entwicklung von „stadtgeeigneten“ Obstsortimenten liefern.

Peter Lock (März 2017)

** Ur-Obst ist freilich ein pragmatischer Arbeitsbegriff. Ein zurück zur vorgeblichen Natur verleugnet, dass Menschen seit tausenden Jahren ihre Lebenswelten mit Eingriffen in die Natur gestaltet haben und daher heutige „Natur“ immer ein Kulturfolgebiotop ist.